Am gestrigen Freitag (02.10.) habe ich das sogenannte „Hagener Manifest“ unterzeichnet. Die FernUniversität Hagen hat verschiedenste „Player“ aus der Bildungsforschung, dem „Twitterlehrerzimmer“ und anderen gesellschaftlichen Bereichen zusammengetrommelt, um ein Konzept namens „New Learning“ auf den Weg und in die Öffentlichkeit zu bringen. Trotz x-facher Barcamps, Initiativen, Booksprints, QuickLearningRuns etc. pp. – vielerorts – von Travemünde bis zum Tegernsee – scheint mir an den Schulen mit der Rückkehr zum Präsenzunterricht nach der Corona-Krise die Dynamik aus dem „digitalen Wandel“ etwas abhanden gekommen zu sein. Waren von März bis Juli oftmals schnelle, praktikable Lösungen gefragt, erleben jetzt so manche „old structures“ ihre Restauration. Hier wird jeder seinen Platzhalter finden, den er hier einsetzen würde. Andererseits scheint die Situation für eine wirkliche Veränderung des Lehrens und Lernens jetzt so günstig wie nie zu sein. Gerade die Diskussionen um Datenschutz in der Schule und die Lehrerdienstgeräte zeigen doch, dass es nun nicht mehr um die „Bespaßung einiger Leuchtturm-Schulen“ geht, sondern um die grundsätzliche Neuausrichtung von Bildungseinrichtungen – es betrifft jetzt eben ALLE. Und gerade darum braucht es jetzt – hoffentlich letztmalig – Leitplanken, die Orientierung und Hilfestellungen bieten. Dazu gehören konkrete Unterrichtsbausteine, meinetwegen auch Online-Mediatheken wie „Mundo“, aber auch fundierte, konzeptionelle Konzepte – vielleicht eben genau so etwas wie das „Hagener Manifest“.

Im Folgenden werde ich versuchen, das Manifest für mich zu erschließen und einige Vorschläge zur Realisierung dessen machen. Schaut man in die Vorbemerkungen, so findet man allerlei Aussagen, die man so natürlich nicht das erste Mal liest. Dass „(i)m Bildungssystem, in der Bildungspolitik und in der Gesellschaft (…) ein angemessenes Verständnis dafür (fehlt), wie die Digitalisierung auch das Lernen von Grund auf verändert hat – und weiter verändern wird“ wäre so ein bekanntes Postulat zum Beispiel. Oder dass „Lernen neu zu denken“ mehr als „digitale Technik“ umfasst. Oder dass der Bedarf an „begleitende(r) Weiterbildung immens“ ist. Oder, oder, oder. In den folgenden 12 Thesen werden diese Ideen aber dann derart prägnant ausgeführt, so dass man merkt, dass die Initiatoren wohl einen ähnlichen Eindruck der Lage, wie ich oben geschildert habe, empfunden haben müssen. Schauen wir uns demnach die Thesen einmal im Detail an:

  1. „New Learning braucht lebenslange Bildung“: Hier geht es um das Konzept des lebenslangen Lernens. Besonders die Betonung auf das „informelle Lernen“ scheint mir hier von Bedeutung zu sein. Hier könnte man ansetzen, indem man Wege schafft, wie man Experten aus verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen in die Klassenzimmer holt. Dies geht via Videokonferenzen sicher viel unproblematischer als früher und kann auch adhoc organisiert werden, wenn sowohl zeitlich als auch finanziell die nötigen Ressourcen dafür bereitgestellt werden. Für die Schule bedeutet dies aus meiner Sicht maximale Öffnung – von der offenen Klassenzimmertür bis zur Integration von lokalen Bildungsnetzwerken, die weniger die großen Projekte, sondern kleinere, schnell durchführbare Lerneinheiten realisieren.
  2. „New Learning fördert Chancengerechtigkeit:“ Digitale Bildung ist nicht gegeben, wenn die „digitale Teilhabe“ nicht ermöglicht wird. Ich denke, dass jedes Kind ein gesetzliches Anrecht auf den barrierefreien Zugang zu einem technischen Gerät (und dessen Nutzung beim Lernprozess) haben muss, da uns sonst vermutlich eine „weiße Generation“ heranwächst. Diese ist zwar im Internet unterwegs, ihr fehlen aber die Kompetenzen mit diesem umzugehen, was im schlimmsten Fall auch zu einer Spaltung der Gesellschaft führen kann, wenn z. B. die Fähigkeit zur Quellenkritik fehlt. Demokratie „kann“ man ja auch nicht automatisch nur, weil man in ihr aufgewachsen ist.
  3. „New Learning stellt die Lernenden in den Mittelpunkt:“ Lehrpläne oder die Lehrmaterialien der Verlage sind statisch. Nicht immer nur „Dinosaurier“ und aus der Zeit gefallen, aber auch nicht immer an den Interessen und den geforderten Skills des 21. Jahrhunderts angepasst. Zudem sollte es in diesem Zusammenhang eine Debatte um die Sinnhaftigkeit von Unterricht an sich geben. Produktorientierung wäre z. B. schon mal eine Idee, um die Lernenden auch demokratischer an ihrem Lernprozess zu beteiligen. Dass hierbei die digitalen Medien fruchtbar unterstützend wirken können, sollte auf der Hand liegen.
  4. „New Learning denkt die Rollen von Lehrenden und Lernenden neu“: Es bräuchte an dieser Stelle aus meiner Sicht zwei Dinge. Zunächst eine Erhebung derjenigen Faktoren, die o.g . These bisher anscheinend verhinderten. Außerdem eine breite gesellschaftliche Debatte über das Lehrerbild. Eine Lehrkraft ist eben nicht „faul“, wenn sie auf „Peer Feedback“ setzt oder ein selbsterstelltes Lernvideo zum 2. Mal nutzt oder die Schüler im Unterricht freie Lernformen nutzen etc. Ohne die Integration der Eltern, die das Schulsystem nur vom „old learning“ her kennen, wird es hier immer wieder zu Reibungsverlusten kommen. Aus meiner Sicht ein viel zu oft unerwähnter Aspekt.
  5. „New Learning bedeutet vernetztes Lernen“: Mehr Mut zu Projekten, Dokumentationen, Quer- und Längsschnitten könnte ich mir hier vorstellen. Die Vernetzungsmöglichkeiten, wie oben schon genannt, kann man über den digitalen Weg nutzen. Ähnliches steht auch in den Thesen 6 bzw. 7 („New Learning ermöglicht flexibles und selbstbestimmtes Lernen“ und „New Learning misst Lernerfolge an individuellen Zielen“). Hierzu bräuchte es aber wohl schon auch Beispiele, wie das gelingen kann und Zeitressourcen für z. B. Lernfortschrittsgespräche mit Schüler*Innen. Eine weitere Ideen wäre das Setzen auf Zertifikate statt nur reinen Ziffernnoten. Hier sollte man durchaus auch die Wirtschaft mit ins Boot holen, damit diese dann auch für den einzelnen Lernenden später berufliche Relevanz entwicklen.
  6. These 8: „New Learning sieht Technologie als Chance – ohne Risiken zu ignorieren“: Ohne Rechtssicherheit, kein „New Learning“. Der vollanaloge „Roll-Back“ ist aus meiner Sicht schon ante portas, wenn die Fragen des Datenschutzes oder der zu nutzenden Lernplattformen nicht schnellstens und final gelöst werden. Ethische Fragen der Digitalisierung sind in die Lernsettings zu integrieren, was ja letztendlich auch immer die Urteilskompetenz der Lernenden an aktuellen und lebenswirklichen Beispielen stärkt. (vgl. auch These 9 „New Learning steigert die digitale (Medien-)Kompetenz und Data Literacy“ sowie These 10 „New Learning garantiert Datenschutz und verhindert digtiale Diskriminierung“) Zudem ist zu prüfen, welche Verwaltungsaufgaben „über Technik“ lösbar sind. Die freigewonnene Zeit kann dann z. B. „näher am Lernenden“ eingesetzt werden. Eine „digitale Mündigkeit“ ist anzustreben. Dies kann aber auch nur dann erfolgen, wenn man über die maximalen Möglichkeiten des technischen Fortschritts Bescheid weiß. Lehrende und Lernende werden nicht umhin kommen, sich hier – zumindest Grundkenntnisse – anzueignen.
  7. These 11/12: „New Learning überwindet Grenzen zwischen Bildungsinstitutionen“ und „New Learning braucht eine neue, gemeinschaftliche Bildungspolitik“: Über neue Formen der Kooperation und Vernetzung brauche ich als Twitter-User hier natürlich nicht schwadronieren. Wie gelingt es aber, dieses Engagement einiger auf viele umzumünzen? Welche Anreize braucht es dazu? Wie komme ich z. B. an Kooperationen mit universitären Playern und wollen diese das überhaupt? Oftmals mangelt es leider auch schon daran, dass die offiziellen Angebote der Kultusministerien nicht allumfänglich genutzt werden, da sie nicht bekannt genug sind. Insofern stecken in diesen letzten Thesen wohl die „dicksten Bretter“, die es zu durchbohren gilt.

Fazit: Das „Hagener Manifest“ liefert auf fundierte Weise eine gute Zusammenstellung der dringendsten Bildungs-Handlungsfelder. Es wird daran zu messen sein, wie die Thesen konkret angegangen werden. Ein Vorschlag wäre z. B., diese Ideen verbindlich in die Lehrkräfteausbildung zu integrieren. Da ich Optimist bleiben möchte, unterstütze ich das „Hagener Manifest“ und hoffe, dass es inhaltlich noch konkreter wird und seinen Weg in die Lehrerzimmer finden wird. Es würde sich lohnen, darüber ins Gespräch zu kommen.